Der Traum

Als würde sich Mani gänzlich aus einer einengenden Zwangsjacke befreien, entkleidete sie sich langsam, fast zelebrierend. Sie war todmüde und hatte keine Lust mehr, über die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter nachzudenken. „Ja, du warst es doch, die damals bei Großmutter bleiben wollte, als ich mich entschlossen hatte, mich von deinem Vater scheiden zu lassen.“ Sie ärgerte sich, dass ihre Mutter nicht aus ihrem Gedächtnis weichen wollte. Wie schon so oft hatte sie es wunderbar verstanden, ihre Schuldgefühle zu nähren, die seit ihrer Kindheit Besitz von ihr ergriffen hatten. „Ich möchte nur noch schlafen“, dachte sie traurig und schlüpfte müde unter die weiche Bettdecke.
“Es gibt so viele Wahrheiten Mani, und jeder Mensch muss die Tür für seine eigene Wahrheit finden. Wir alle brauchen sehr viel Mut, diese Tür zu öffnen”. Diese Worte, die plötzlich ihre Erinnerung streiften, hatte ihre Großmutter so oft zu ihr gesprochen. Obwohl sie den Sinn des Spruches heute genauso wenig begriff, wie in all den Jahren zuvor, hatte er dennoch etwas Beruhigendes. Die Worte waren Balsam für ihren wirren Geist. Mani tauchte unter, lies sich treiben von den feinen Schwingungen der Bilder, die vertraut vor ihrem geistigen Auge vorüber zogen. Wie so oft galt ihr letzter, wacher Gedanke ihrer Großmutter, die vor zwei Monaten verstorben war. Es dauerte nicht lange und sie war eingeschlafen.
Ihre unkontrolliert weiterspuckenden Gedanken durchwühlten ihr Unterbewusstsein und die exakte Buchführung des Erlebten, das in ihrer Seele fest eingeprägt schien, konstruierte aus der Vielfalt der gespeicherten Informationen eine neue und doch so bekannte Welt, die in ihren verschlüsselten Traumbildern Aufklärung suchte. Die Bilder von Mutter und Grossmutter waren verblasst. Stattdessen konstruierte die imaginäre Leinwand ihrer Seele ein neues Gesicht. Sie sah einen Mann mit wundervollen aquamarinblauen Augen. Es waren Augen, in denen sie sich verlieren konnte und wollte. Sie tauchte in den Blick des Fremden ein, so als ob sie durch einen Spiegel treten würde, um in die dahinter wohnende Seele zu gelangen. In der grauen Asche glühte immer noch das Feuer der Liebe, dass mit jedem ihrer Atemzüge neu belebt wurde. Es gab so viel was sie dort sah. Entschlossenheit, Verständnis, Sanftmut, Güte und ein vager Rest von Schmerz. Umhüllt von einem umfassenden Gefühl des Einverständnisses, ganz in Einigkeit verschmolzen, wollte sie sich an den Körper des Fremden drücken. Ihre Arme und Beine blieben aber steif und es war ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Obwohl sie den Mann erst vor kurzem kennen gelernt hatte, war er ihr bereits sehr vertraut. Verheißungsvoll streckte er seine Arme nach ihr aus. Sie wehrte sich, wollte sich aus ihrer zwanghaften Starre lösen, aber es gelang ihr nicht. “Bleib, geh nicht fort”, rief sie traurig dem langsam entschwindenden Bild nach. Dann wurde sie von einer tosenden Welle erfasst, die sie hinab in ein dunkles Meer zog. Sie tauchte nach Atem ringend auf und rettete sich auf einen Felsen, der aus dem Wasser ragte. Ihr Rufen war verstummt und dicke, rote Tränen rollten über ihre kleinen, bleichen Backen. Sie war plötzlich wieder ein Kind und sah, wie sich das Meer von ihren Tränen rot färbte. In dem rot getränkten Tränenwasser erkannte sie die verschwommen Umrisse einer Frau. Froh darüber, dass sich die fesselnde Starre gelöst hatte, sprang sie mit einem Satz durch die nassen Fluten und landete in den Armen ihrer Mutter. Als diese auf einem großen roten Sofa Platz nahm, kletterte sie schnell auf ihren Schoss und schmiegte ihren kleiner Körper sanft an ihre Brust. Sie genoss die zärtlich streichelnden Hände, die ihr liebevoll über den Rücken fuhren.
“Mani mein Kind”, hörte sie eine fremde Stimme sagen. “Eine alte Weisheit warnt, sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, es könnte nämlich in Erfüllung gehen. Hab Acht vor dem Magneten der dich in eine falsche Richtung ziehen will, er ist stark, drum wähle dein Ziel mit Bedacht.” Mani wollte wissen, wer zu ihr sprach und was hinter diesen Worten für eine Bedeutung stand. Sie sah ihre Mutter fragend an, doch diese schenkte ihr lediglich ein wohlwollendes Lächeln. Dann stellte die Mutter ihr kleines Mädchen auf den harten Boden ab und sah zu, wie ihre winzigen Füße auf den großen, glänzenden Fliesen herum tänzelten. Der Raum war karg eingerichtet und wurde von den unruhig flackernden Kerzen, die in einem sechsarmigen Lüster standen, erhellt. Fasziniert beobachtete Mani die herunter brennenden Kerzen und die große Menge geschmolzenen Wachses, der sich zu seltsamen Formen verhärtete. Der rötlich schimmernden Lichtschein der Kerzen entfaltete im Raum eine feierliche Stimmung, die ihr aber Unbehagen einflößte. Zudem hing ein Geruch von altem ungenutztem Wissen in der Luft, was ihr das Atmen erschwerte. Es war derselbe Geruch, der aus der kleinen Kapelle entwichen war, als diese nach drei nasskalten Tagen erstmals wieder geöffnet wurde, um darin die Beerdigungszeremonie für ihre Großmutter abzuhalten. Verzweifelt ließ Mani ihre weit aufgerissenen Augen durch den Raum schweifen und entdeckte weit weg eine Tür. Die ganze Atmosphäre machte ihr Angst. Sie rannte auf die Tür zu, wollte die Klinke ergreifen, aber diese war zu weit oben angebracht. Sie rüttelte und pochte an der Tür und hoffte, dass sie aufspringen würde. Sie fühlte sich eingesperrt und mit flehendem Blick signalisierte sie ihrer Mutter: “Hilf mir.” Da ihr Drängen immer fordernder wurde, gab ihre Mutter endlich nach. Sie öffnete die überdimensional große Tür und ein frischer Wind schlug ihnen entgegen. Die kühle Brise tat Mani gut. Als sie jedoch einen kleinen Schritt nach vorne ging, erschrak sie, da sich ein bodenloser Abgrund vor ihr auftat. Sie blickte hinunter, sah aber nur ein schwarzes Loch.
In diesem Moment wälzte sich Mani unruhig in ihrem Bett hin und her. Sie merkte nicht, wie ihr der Schweiß aus allen Poren rann. Als sie im Traum einen weiteren Schritt nach vorne wagte, fiel sie hinab in die gähnende Leere des Abgrunds. “Mama,…. Mama…. wo bist du?” rief das kleine Mädchen, das tiefer und tiefer fiel und Angst davor hatte, hart aufschlagen zu müssen. Dann wurde es heller unter ihr. Durch einen bunten Regenbogen von weichen Farben drehte sich ihr Körper um die eigene Achse fallend, und unter ihr sah sie plötzlich ihre Großmutter, von der sie mit ausgebreiteten Armen aufgefangen wurde. Mani hatte keine Angst mehr, sie fühlte sich wohl in den Armen dieser toten Frau, die so lebendig wirkte. In einiger Entfernung stand ihre Mutter und betrachtete die innige Verbundenheit von Enkelin und Großmutter. Das Gesicht der Mutter wirkte hart und angespannt. Sie trat auf die Beiden zu und zerrte Mani entschlossen von der Großmutter fort. Sie hielt Manis kleine Hand fest mit der ihren umschlossen und führte sie durch einen langen, schummrigen Flur. Mani schaute zurück und sah die lautlosen Tränen in den Augen ihrer Großmutter. Zum Abschied winkte sie ihr traurig zu, solange bis sie aus ihrem Blickfeld gänzlich entschwunden war.
An den Wänden des Ganges hingen viele Bilder, aus deren antiken Rahmen bekannte Gesichter heraus lächelten. Am Ende desselben wartete eine weitere große Tür auf sie, und die riesige Eichenfront wirkte wiederum bedrohlich auf Mani.
“Mama, wo gehen wir hin und warum kommt Großmutter nicht mit?” fragte Mani ängstlich. Ihre Mutter sah sie stumm an, stieß die schwere Tür auf, die quietschend nachgab. Der lange, dunkle Flur wurde nun von einem hellen, freundlichen Licht durchflutet. Durch die wuchtige Türöffnung erblickte man eine grüne, saftige Wiese. Schnell sprang Mani hinaus und fühlte das weiche Gras unter ihren Füssen. Sie hatte ihre Großmutter vergessen und hopste fröhlich auf dem flauschig weichen Teppich herum, und der Boden gab bei jedem ihrer kindlichen Schritte federnd nach. Es roch nach Frühling. Ein Strauß von zarten und kühlen Aromen erfüllte die warme Luft. Das kleine Mädchen lachte, sang fröhliche Linder und tanzte über das weiche Gras. Dann blieb sie stehen, ganz unvermittelt und sah am Ende der Wiese ein Haus. Neugierig fegten ihre kleinen Füße über die Wiese hinweg und sie stand direkt vor einem riesigen weißen Gebäude, das keine Fenster hatte. Es war wieder eine dominierende Eichentür, die das Gebäude geheimnisvoll beherrschte. Sie schaute zurück, rief nach ihrer Mutter und nach ihrer Großmutter, doch sie blieb allein. Sie stemmte sich gegen das Holz und trommelte mit ihren kleinen Fäusten dagegen. Ganz langsam wurde die Tür von innen geöffnete und eine alte Frau, mit durchfurchten Gesichtszügen, stand vor ihr und betrachtete sie liebevoll. Mani kannte diese alte Frau, die sie durch die Tür auf die andere Seite lockte, aber sie wusste nicht woher.
“Komm Kind, du musst zur Schule gehen”, sagte sie freundlich. Mani befolgte ihre Anweisung, trat durch die Tür und sie sah ihre Schule in weiter Ferne in Flammen stehen. Dass die Schule nicht wirklich brannte, merkte sie erst später. Es war heiß und schwül, doch ein fröstelnder Schauer rann trotzdem über ihren kleinen Körper. Zudem schmerzten ihre Füße, da der Boden hart und steinig war. Die alte Frau drückte ihr ein paar rosarote Schnürschuhe in die Hände und sie schlüpfte hinein. Sie freute sich riesig, dass sie ihr wie angegossen passten und betrat den schmalen Pfad, der sie direkt zu ihrer Schule führte. Sie winkte der alten Frau noch einmal lächelnd zu, bevor sie einen langen Anlauf nahm und von magischer Kraft gelenkt, mit einem lauten Schrei in das vermeintliche Feuer sprang, das die Schule umschloss.
“Mani, Mani, wach auf”, rief eine ihr bekannte Stimme, erst zaghaft, dann immer lauter.
Sie wusste nicht woher das Rufen kam und suchte nach einem vertrauten Gesicht, das zu der Stimme gehörte. Sie fühlte, dass zwei Hände sanft an ihren Schultern rüttelten. “Was ist los?”, stammelte sie und öffnete schlaftrunkenen ihre Augen.
Mäc saß an ihrem Bett, streichelte ihr liebevoll ihre dichten, schwarzen Locken aus dem Gesicht und lächelte sie wissend an.
“Du hast geträumt Mani”, sagte sie leise, ganz behutsam.
“Aha”, war Manis Antwort und sie schloss erneut die Augen, nur für einen Moment. Etwas zaghaft, fast beiläufig, wandte sie sich an Mäc: “Tut mir leid, ich habe wohl wieder geschrien?” Dabei blickte sie ihre Freundin an, als ob sie sich entschuldigen wollte.
“Ja, wie immer, aber bitte entschuldige dich nicht dafür. Du musst diesen Traum unbedingt einmal aufschreiben, ich glaube, dass er ein Schlüssel zu etwas ist, das dich schon seit Wochen quält”, schlug Mäc ihrer Freundin vor.
Es war nicht das erste Mal, dass Mäc ihr diesen Ratschlag erteilte, aber sie brauchte diesen Traum nicht auf Papier festzuhalten, da sie ihn detailgetreu immer wieder nacherzählen konnte. Diese vielen Türen, von denen sie magisch angezogen wurde und die ihr so viele Rätsel aufgaben, waren ihr mittlerweile so vertraut, dass sie zwar ahnte, was für eine Bedeutung dahinter stecken könnte, aus Angst aber nicht hinsehen wollte. “Ach Quatsch”, sagte sie plötzlich laut und entschlossen. Hellwach setzte sie sich auf. “Es ist immer das Gleiche Mäc, eben nur ein Traum”, erklärte sie kurz und abwehrend. “Ich bin wieder ein Kind und falle durch schwarze, dann bunte Löcher. Meine Mutter und meine verstorbene Großmutter, eine alte Frau, wer auch immer das ist, erscheinen auf der Bildfläche. Ich schreite durch eine Menge von komischen Türen und lande am Schluss immer in einer brennenden Schule. Was soll daran schon viel Bedeutungsvolles sein?” versuchte sie sich in erster Linie selbst zu beruhigen.
Sie war aufgestanden, zog die Jalousien hoch und genoss die warme Vormittagssonne, die hell in ihr Zimmer strahlte. Schnell schlüpfte sie in ihren Bademantel und fragte ganz beiläufig: “Wie spät ist es eigentlich schon?” Schnell verdrängte sie ihren Traum, so wie immer, und sah ihre Freundin etwas gequält lächelnd an. “Fast zehn, Mani”, schmunzelte Mäc und wechselte das Thema. „Wie war eigentlich der gestrige Abend? Du warst doch mit deiner Mutter essen, oder nicht?“ Mani überlegte eine Weile. „Frag mich lieber nicht. Sie hat einfach noch nicht akzeptiert, dass wir beide nun zusammen leben. Sie denkt doch immer noch, dass ich wieder bei ihr einziehen werde.“ Mäc betrachtete sie erschrocken. „Und, wirst du bei ihr einziehen?“ fragte sie etwas zögerlich. „Spinnst du, ganz sicher nicht. Ich werde erst wieder hier ausziehen, wenn mein Märchenprinz mich von dir befreit“. Mäc fing an lauthals zu lachen. „Apropos Märchenprinz: nun – sag schon – hast du den Typen von neulich, diesen Mann mit den wundervollen blauen Augen, wieder gesehen?“ Über Manis Gesicht huschte ein geheimnisvolles Lächeln. Dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und blieb wie angewurzelt stehen. „Ja“, sagte sie plötzlich.“ Es schien so, als ob sie über sich selbst erstaunt wäre. „Und wann war das?“ wollte Mäc neugierig wissen. „Na, heute Nacht,“ erwiderte Mani und Mäc schaute sie verblüfft an. „Du träumst wohl immer noch!“ sagte sie ironisch.