Die Spionin

Mani fühlte sich ertappt. Sie wollte das, was sie über Mäcs Freund in Erfahrung gebracht hatte, lieber für sich behalten. „Wir hatten uns einmal gegenseitig geschworen immer offen und ehrlich zueinander zu sein. Absolut ehrlich.“ In Mäcs Worten schwang ein gewisser Unterton mit. Mani stöhnte innerlich. Sie sah in Mäcs Augen, die erwartungsvoll an ihr hafteten. Es war, als führe sie auf einer wilden Achterbahn. Händeringend und nach Luft schnappend hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: „Also gut. Was ich zu deinem eigenen Schutz vor dir verschweigen wollte, sollst du nun wissen. Ich hätte dir so gerne all das erspart, aber nun kann ich das wohl nicht mehr.“ Mäcs Gesicht war eine Spur blasser geworden. „Du musst mich nicht schonen“, sagte sie entschlossen. Mani sah sie verwirrt an. Obwohl Mäc beherrscht schien, spürte sie dennoch fast körperlich ihre Angst. Für einen Moment hielt sie abrupt den Atem an, holte dann tief Luft und nahm überrascht die Kraft wahr, die sich in ihr sammelte. Entweder würde der eiskalte Fahrtwind ihrer Erzählung Mäc und sie entzweien oder ihre jahrelange Freundschaft noch fester zusammenschweißen. Mutig ließ sie es darauf ankommen.
„An jenem gewissen Tag, als Jonny dich versetzt hatte, war auch ich in Zürich. Ich hatte mich mit Gina, einer Kollegin aus der Schule, zu einem Einkaufsbummel verabredet. Abends waren wir dann noch in Pinos Pizzeria eingekehrt, und dort habe ich Jonny gesehen.“ Mäc starrte ihre Freundin wie ein einziges großes Fragezeichen an. „Das verstehe ich nicht!“ wandte sie nachdenklich ein. „Heisst das, dass du mit ihm gesprochen hast?“
Mani nickte nur und holte noch einmal tief Luft, bevor sie sich mit anfänglich zitternder Stimme ihrer zentnerschweren Gedankenlast endgültig entledigen wollte. „Er hatte die ganze Zeit an einem der Nebentische gesessen. Als er mit einer wasserstoffblonden Frau, die an seinem Arm hing, das Lokal verließ, folgte ich ihnen unauffällig. Irgendwie passte all das nicht zusammen. Schließlich wusste ich ja, dass du an diesem Abend mit ihm verabredet gewesen warst. Ich konnte Gina überreden, für eine Weile alleine zu bleiben. Mäc ich sage dir, es war wie in einem Actionfilm“, erzählte Mani ziemlich aufgebracht. Mäc saß stumm vor ihrer Freundin, den Oberkörper unnatürlich aufgerichtet. Sie hielt dabei die Finger ineinander verschränkt und stützte verkrampft beide Ellbogen auf die Seitenlehnen des Stuhles ab. „Ja, und wie weiter?“ Auf Mäcs Frage hin fuhr Mani unbeirrt und mit gefestigter Stimme fort: „Die beiden waren in Richtung Bahnhof gegangen, bestiegen dort ein Taxi und ohne gross zu überlegen, folgte ich ihnen in einem anderen Taxi. Der Fahrer war im Übrigen ausgesprochen nett. Obwohl er seinen Teil in diesem Actionfilm, ohne dass ich viele Worte machen musste, bestens kannte, war er ebenso aufgeregt wie ich. Es war Intuition, die mich zwang, an Jonny dranzubleiben. Du weißt,…. nun ja,.. ich mochte deinen neuen Freund nicht sonderlich.“ Bei ihren letzten Worten musste sie regelrecht nach Luft schnappen. Während sie nach Atem rang, betrachtete sie die undurchdringbare Physiognomie ihrer Freundin. Für eine kurze Weile wurde die kleine Küche von einer schneidenden Stille erfüllt, die Mäc durchbrach. „Ich hatte ihn einfach geliebt“, seufzte sie traurig. „Dass ich seine dubiosen Machenschaften ignoriert habe, weiß ich schon.“ In ihrem Tonfall schwang Gleichgültigkeit mit. „Deinetwegen will er mich nicht mehr sehen … stimmt’s…?“ Mäc starrte ihre Freundin irritiert an.
„Es ist nicht direkt so wie du denkst, Mäc! Ich sage dir, es wird deine Vorstellungskraft bei weitem übersteigen“, sprudelte es erst sachte, dann immer heftiger aus Manis Mund.
Mäc war mucksmäuschenstill. Ihre Körperhaltung hatte sich veränderte. Sie war wie ein kleines Kind, das Angst vor angedrohten Schlägen hat, Schutz suchend in ihren Stuhl zurück gesunken. Mani, die bei ihrem letzten Satz ziemlich erregt aufgesprungen war, ging ein paar Schritte durch die Küche. Wenige Augenblicke später hatte sie sich wieder gefasst und nahm erneut gegenüber von Mäc Platz. Auch ihr Tonfall war merklich ruhiger geworden.
„Ich war den beiden bis zu einem Haus gefolgt, dass mir irgendwie bekannt vorgekommen war. Du hattest es mir einmal sehr exakt und eindrücklich beschrieben, nachdem du von einem deiner seltenen Besuche bei Jonny heimgekehrt warst. Der riesige Torbogen, die steinerne Treppe und das große schwarze Portal über dem ein brüllender Löwe seine Pfoten nach unten streckte, all das verriet mir, wo ich mich befand. Als Jonny und diese Frau im Haus verschwunden waren, hatte ich den Taxifahrer angewiesen, mich zu der Pizzeria zurückzufahren, wo Gina ziemlich sauer, all die Zeit ausharren musste.“
Mäc schaute nun ein wenig entspannter drein, nicht mehr ganz so ängstlich. „War das nun alles?“ fragte sie beinahe ärgerlich. „Nein, noch lange nicht“, antworte Mani sofort. Augenblicklich fuhr sie mit ihrem immer mysteriöser werdenden Erlebnisreise fort.
„Gina verzieh mir schnell, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass es bei meiner Aktion eigentlich um dich ginge. Der Einfluss, den Jonny auf dich hatte, war alles andere als gut.“ Mäc richtet sich empört in ihrem Stuhl auf. „Das müssen aber sehr triftige Gründe sein, dass du dich derart stark in mein Leben eingemischt hast. Auf deine Erklärung bin ich echt gespannt.“ Mani wusste, dass sie die von Mäc ärgerlich heraus posaunten Vorwürfe unbedingt entkräften musste. „Später, als Gina und ich nach Hause fahren wollten, hatten wir beschlossen, noch einmal zu dem Haus zu fahren, in dem Jonny verschwunden war. Ich wollte wissen, ob auch du dich dort aufhieltest. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich ja nicht, dass er dich versetzt hatte“. Obwohl Mäc stumm eine Augenbraue hochzog, erzählte Mani unbeirrt weiter.
„Zufällig wurde die mächtige Eichentüre von einem Hausbewohner von innen geöffnet, der sich mit einem kleinen Hund an der Leine auseinandersetzte. Ich konnte unauffällig in das Innere des Hauses schlüpfen. Von deinen schwärmerischen Erzählungen wusste ich, dass Jonny die Attikawohnung bezogen hatte. Nachdem ich an der obersten Wohnungstür geklingelt hatte, merkte ich bald, dass ich wirklich richtig war. Dieselbe hässliche Blondine, die mit Jonny in der Pizzeria gewesen war, hatte mir nämlich geöffnet. Sie hatte sich umgezogen und war nun lediglich mit einem viel zu engen Höschen bekleidet, das von ihrem fetten Bauch fast ganz bedeckt wurde. Ihr üppiger Busen schwabbelte hin und her und ich wollte schon die Flucht ergreifen, als sie mich fragte, ob ich Mändli sei. Ohne zu überlegen, ließ ich mich auf das Experiment ein, nickte kurz, und stand bereits mitten in der Wohnung.“ Mani hielt ein paar Atemzüge lang in ihrer Erzählung inne, durchforschte unsicher die immer noch unbeweglichen Gesichtszüge ihrer Freundin, die nichts und doch so viel auszudrücken vermochten.
„Irgendwie hatte ich wohl aufgehört weiter zu denken, da ich sonst sicher vor lauter Angst weg gelaufen wäre. Ich fühlte, dass mich die ganze Aktion und meine Lüge in die Nähe eines Abgrunds trieben. Bei mir drehte sich alles wie bei einem Karussell und ich wusste nicht, wie ich je wieder davon absteigen sollte“. Mani spürte, dass ihre Freundin sie ungläubig ansah. „Ich ahne Fürchterliches“, hauchte Mäc fast tonlos. Mani nickte verständnisinnig und sagte: „Ja, du hast Recht.“ Nach einem kurzen Räuspern fuhr sie mit ihrer Erzählung fort.
„Die Dicke hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich zwar eine halbe Stunde zu früh sei, aber schon einmal herein kommen sollte. Dabei hatte sie mich von oben bis unten gemustert und verschwand dann, ich glaube im Badezimmer. Da stand ich nun, alleine und sah mich schon fast im Teppichboden versinken. Im Nebenzimmer hörte ich Musik und näherte mich vorsichtig der offen stehenden Tür. Auf einmal rief ein Mann, und dieser Mann war Jonny, mit unanständigen, obszönen Worten nach einer Mändli. Ich musste all meine Courage sammeln, um nicht schlapp zu machen. Mutig betrat ich den Raum, brauchte aber einige Sekunden, um meine schlotternden Knie ruhig zu stellen. Dann stand ich vor einem riesigen Bett, das sich mitten im Zimmer befand und den Ort zu beherrschen schien. Das Licht war recht schummrig, leicht rötlich und ich sah wie sich zwei nackte Frauenkörper auf dem riesigen Bett räkelten. Und…., ach das ist verrückt, auf ihnen turnte, ebenfalls völlig nackt, Jonny herum. Zunächst stockte mir vor lauter Staunen und Ekelgefühl der Atem. Er hielt den Kopf von mir abgewandt, streckte unübersehbar sein nacktes Hinterteil in meine Richtung und machte sich noch nicht einmal die Mühe mich anzusehen. In ziemlich befehlshaberischem Tonfall instruierte er mich, dass ich mich schon mal auszuziehen sollte. Mir blieb die Spucke weg, als er anschließend beschrieb, was er mit dem Frischfleisch im Sinn hatte. Sobald er sich umdrehte, schaute er mich erst ganz verdutzt an und fing dann plötzlich lauthals an zu lachen. Ich tat so, als ob auch ich die Situation lustig fände. Meine Tarnung war nicht aufgeflogen. Der Sauhund glaubte doch tatsächlich ich sei eine Nutte. Diese Runde ging an mich.“ Mani erschrak ein wenig, als Mäc plötzlich einen schrillen, spitzen Schrei ausstieß und so etwas Ähnliches stammelte wie, „das ist ja… nein!“ Genau so unvermittelt wie es aus ihr herausgeschossen war, so schnell verstummte sie auch wieder. Sofort hatte Mani sich gefangen und ließ ihre längst von den Ketten befreiten Gedanken unbarmherzig weiter strömen.
„Ja, es sah wirklich so aus, als ob er sich prächtig amüsierte. Er schlug, in einem tosenden Lachkrampf verfallen, immer wieder seine Hände auf die dicken Ärsche seiner Bettgenossinnen. Die beiden hennagefärbten Schlampen hingen wie zwei glucksende Hühner an ihm und betrachteten mich neugierig, während sie albern herum kicherten. Als die Dicke von nebenan ebenfalls ins Schlafzimmer gekommen war, und mich zornig fragte, warum ich noch nicht ausgezogen wäre, merkte ich, dass endgültig Gefahr in Verzug war. Allmählich wuchs mir die ganze Sache über den Kopf. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, nahm ich reflexartig ein Glas Sekt von dem Tablett, das die Dicke auf einem kleinen Tisch abgestellt hatte. Schnell trank ich einen großen Schluck und das half tatsächlich. Die prickelnde Flüssigkeit wirkte wie eine anregende Medizin. Wieder bei vollem Verstand, trat ich ganz nah an das Bett heran, holte mit der Hand derart weit aus, dass der Kopf dieses Mieslings bei meinem Schlag regelrecht krachend nach hinten schnellte. Anschließend zertrümmerte ich das Glas samt dem restlichen Inhalt auf seinem schmierigen Schädel. Ich sage dir, das tat mir ausgesprochen gut, diesen gebräunten Mister Saubermann taumeln und seine symbiotisch herum gackernden Hühner, wie bei einem Fruchtbarkeitszauber, um ihn herum springen zu sehen. All das spielte sich innert weniger Sekunden ab, doch ich spürte augenblicklich, dass es höchste Zeit war, mich endgültig aus dem Staube zu machen. So schnell ich konnte, rannte ich aus dem Zimmer und fühlte, wie mir dieses nackte Schwein wutentbrannt und schnaubend hinterher getrampelt kam. Er versuchte mich brutal zu packen, aber ich konnte mich wehren. Ich riss mich los und verpasste ihm, sozusagen als Abschiedsgeschenk, einen ordentlichen Fußtritt zwischen die Beine. Dann sah ich nur noch für einen Moment, wie er stöhnend und fluchend um seine hysterisch kreischenden, nackten Weiber herum humpelte, bevor ich endgültig durch die Tür nach draußen verschwand. Mein Gott, war ich froh, dass mich dieser, wie sich später herausstellte, Zuhälter nicht erwischt hatte. Was sonst passiert wäre, daran möchte ich im Traum nicht denken. Das Erlebnis dieses Abends war so schrecklich, grauenvoll und ekelhaft, dass ich dir niemals davon erzählen wollte.“ Mäc saß immer noch still wie ein Mäuschen und rührte sich kaum. Sie sah Mani erschrocken an, aber ihre Augen forderten sie auf, auch noch den Rest zu erzählen.
„Gina wartete bereits mit laufendem Motor vor dem Haus auf mich. Zuerst brachte ich kein Wort heraus. Nach ein paar Kilometern Fahrt musste Gina anhalten, da ich mich übergeben musste. Ich glaube, ich hatte mir vor lauter Ekel die Seele aus dem Leibe gekotzt. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für ein Gefühl ist, eine unverdaute Pizza zusammen mit italienischem Rotwein auf diese Weise zurück an die Luft zu befördern.“ Ihre angespannten Gesichtszüge spiegelten die ganze Tragweite ihres anschaulich gestalteten Denk- und Erlebnisinhaltes wider. „Danach musste ich reden, reden mit Gina, und das tat in diesem Moment gut. Ich weinte, wusste nicht was ich dir sagen sollte, und hoffte von ganzem Herzen, dass du zu Hause sein würdest.“ Mani war von ihrer eigenen Beredsamkeit überrascht und stoppte ihren Redefluss abrupt.

Sie hatte sie geöffnet, diese pralle, berstend gefüllte Kiste des Schweigens. Ihr Erleben stand jedoch ganz im Gegensatz zu Mäcs Erfahrungen mit Jonny. In der kleinen Küche herrsche eine spannungsgeladene Atmosphäre. Die Zuhörende zeigte aber nicht das kleinste Anzeichen einer Reaktion. Nur das gleichmäßige Ticken der Kuckucksuhr war in der gespenstischen Stille zu hören. Mani nahm erschrocken die gleich bleibend starre Physiognomie ihrer Freundin wahr. War Mäc böse? Verdammte sie ihre eigenmächtige Handlungsweise oder hatte sie gar nicht begriffen, was geschehen war? Sie konnte diese verfluchte Ungewissheit nicht länger ertragen, und noch bevor sie tapfer dazu ausholen wollte, Aufklärung für diese entscheidenden Fragen zu erbitten, öffnete sich die winzige Tür der lustigen Kuckucksuhr und heraus sprang federnd ein kleiner bunter Vogel, der gleich fünf Mal mit seinem Rufen die gespannte Stimmung zerriss. Diese längst bekannte, nur noch selten wahr genommene Melodie, und die Aktion, die der kleine Vogel zelebrierte, der schon wieder in sein schmales Häuschen verschwunden war, wirkte in diesem Moment derart komisch, dass beide Frauen gleichzeitig den Atem anhielten. Erst stahl sich der Hauch eines Lächelns um ihre Mundwinkel, dann folgte diesem ersten erlösenden Schmunzeln ein schallendes, aus vollem Herzen klingendes Gelächter. Es dauerte eine kleine Weile bis sie sich wieder beruhigt hatten. Sie spürten eine große Wärme, die sie zärtlich erfasste. „Mani, ich liebe dich und du bist meine beste Freundin“, ertönte Mäcs Stimme sanft in Manis Ohr. „Glaube mir Mäc, ich wollte dir nie wehtun. Ich hoffe ganz fest, dass du bald über das hinweg kommst, was dir dieser Mann angetan hat.“ Mani war nicht nur froh, ihr Gewissen erleichtert zu haben, sie war geradezu überwältigt von Mäcs innigen Gefühlen der Zuneigung. Etwas schwerfällig trat sie auf ihre Freundin zu. Es war ein wunderbar befreiendes Gefühl, sich dem monatelang in ihrem ängstlichen Herzen eingezwängten Schweigens entledigt zu haben. Die dicken Tränen, die gemächlich über ihre wieder rosigen Wangen hinab rannen, animierten Mäc sofort, ihre Freundin fest in die Arme zu schließen. Im Wechselbad dieses ambivalenten Gefühlschaos, zwischen schluchzen und lachen, halten und drücken, offenbarte sich die Echtheit dieser fest verankerten Freundschaft, die die beiden Frauen verband.