Einfach daheim
„Ach Mani, du und deine Heimatgefühle“ parierte Mäc lächelnd. „Ich weiss, ich weiss. Es gibt viele schöne Fleckchen auf dieser Erde, aber Ferien zuhause zu machen, ist doch auch nicht schlecht. Nicht wahr?“ Mani sah ihre Freundin mit einem skeptischen Stirnrunzeln an. „Du hast wohl ein schlechtes Gewissen,“ antwortete Mäc mit theatralischem Ernst in der Stimme. „Mal ehrlich, Mani. Wir sind doch beide ein wenig verrückt. Statt an irgendeinem Strand irgendwo in der Karibik zu liegen begnügen wir uns mit einem Picknick am See. Ist das normal, frage ich dich?“ Noch bevor Mani ein Wort erwidern konnte, beantwortete Mäc ihre Frage gleich selbst: „Nein, das ist nicht normal. Wir sind eben nicht normal. Und ich freue mich sehr, das wir hier geblieben sind.“ Und du bist dir ganz sicher?“ hakte Mani kritisch nach. „Ja und nochmals ja. Und jetzt pack endlich aus. Ich habe nämlich Hunger,“ sagte Mäc abschließend und deutete mit den Fingern auf den Picknickkorb. Mäc griff ordentlich zu, prostete ihrer Freundin noch einmal mit ihrem Plastikbecher zu und kippte den letzten Schluck Rotwein genüsslich in sich hinein. Dann steckte sie sich die kleinen Kopfhörer ins Ohr und legte sich glücklich und satt, mit einem tiefen Seufzer, der Länge nach auf die grosse Wolldecke.
Mani fühlte, wie der laue Spätsommerwind sanft über ihr Gesicht wehte. Ab und zu sog sie mit einem lauten Zischen den Geruch des langsam entschwindenden Sommers durch ihr vibrierenden Nasenflügel. Mäc war eingeschlafen. Ein Kopfhörer hatte sich aus ihrem Ohr gelöst, aus dem sanfte Jazz-Rhythmen zu hören waren. Die leisen Töne und die würzige Luft umschmeichelten liebkosend Manis Sinne. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss das Wechselbad blumiger Aromen, die in ihrer Nase kitzelten. Aus dem Facettenreichtum dieses einzigartigen Duftbouquets, das von dem Geruch vertrockneten Grases dominiert wurde, füllte sie mit ein paar langen Atemzügen ihre Lugen bis zum Rand. Dieser ländliche Duft war für sie mehr als nur ein Wohlgeruch. Er übte eine seltsame energetische Wirkung auf sie aus und sie verspürte den Wunsch, sich zu bewegen. Obwohl sie die Musik nicht mehr hörte, hatte sie die Melodie immer noch im Ohr. Barfuss tänzelte sie genüsslich durch das Gras und tauchte ein in das Leben, das jede Sekunde um sie herum atmete und ein Stück von ihrer eigenen Biographie in sich trug. Es kam ihr so vor, als ob die grenzenlose Schönheit der Natur ungeduldig darauf wartete, ihre Kraft an sie zu verschwenden. Das Leben in dieser urtümlichen Gegend erzählte ihr die Geschichte vom ewigen Kreislauf des Seins auf eine einfache, unkomplizierte Art und Weise. Es war weniger eine Frage der Präsenz, die ihre Sensibilität für das gleichermassen robuste wie hochempfindsame Landleben aktivierte, sondern viel mehr die Achtsamkeit, die sie für ihre Heimat empfand. Wie überall lebte und starb alles Leben im Vierteltakt, aber an keinem anderen Ort der Welt war ihr jemals die Herrlichkeit und Faszination derart bewusst geworden, die jede Jahreszeit für sich ausstrahlte. In Momenten wie diesen, wenn sie sich von ihrer Intuition leiten ließ, wusste sie, dass ihre Entscheidung hier zu leben, die richtige war. Zwar vergaß sie nicht, dass das Leben in der Stadt durchaus reizvoll sein konnte, aber sie wunderte sich selbst darüber, wie leicht es ihr gefallen war, all die vielen Chancen und Möglichkeiten auszuschlagen, die sich ihr in dem dynamischen Spannungsfeld der Stadt offenbart hätten. Irgendwie hatte der Zauber dieser kleinen Welt sie in einen seltsamen Bann gezogen und ihr die Sinne geöffnet. Nirgendwo sonst hatte sie je erlebt, welche Schönheit an einem Spätsommertag von der Erde aufsteigt. In der Stadt konnte sie höchstens davon träumen, da alles längst unter den dicken Asphalt- und Betonschichten erstickt war.
Mani war an dem kleinen Fluss angekommen, der an einer Stelle zu einem kleinen See angeschwollen war. Sie badete ihre Füsse vorsichtig in dem kalten Wasser und genoss das wohlige Prickeln, das wie aufsteigende Seifenblasen langsam von den Füssen bis zum Kopf wanderte. Mit jedem Schritt tauchte sie weiter ein. Erst als das Wasser ihre Knie umspülten hielt sie inne und lauschte. Aus der Ferne hörte sie das Plätschern des kleinen Flusses, der für einen Moment sein vorbestimmtes Ziel aus den Augen verloren hatte. All das vorwärts strömende Wasser hatte sich, fast einer Verschwörung gleich, in einem einsamen, stillen Becken angesammelt. Sie dachte an die Schulkinder und daran, wie viel Freude es ihr bereitet, sie zu unterrichten. Sofern das Wetter hielt, wollte sie zu Beginn des neuen Schuljahres noch einmal mit ihren Sprösslingen hierher kommen. Sie wusste, dass es für die kleinen Rabauken kein grösseres Geschenk gab, als die Turnstunden in einen fröhlichen Badespass zu verwandeln.
Es war bereits spät am Nachmittag. Langsam trottete sie zurück ans Ufer und bei jedem ihrer Schritte kam die scheinbar stille Wasseroberfläche in Bewegung. Mani betrachte lächelnd das kleine Naturspektakel und spürte wie die sanften Wellen in diesem unscheinbaren Moment den Gesetzen der Natur folgten. Sie dachte daran, wie sich diese bezaubernde Atmosphäre mit dem Wechsel der verschiedenen Tages- und Wetterstimmungen verändern konnte. Mal kam ihr der kleine See tiefblau, blauer als der Himmel selbst, rein und unberührt vor. Ein anderes Mal war er milchig trüb, versprühte eine fast melancholische Gesinnung oder er war belebt mit vielen bunten Farben, aus denen sich lustige Punkte abhoben und auf seiner Oberfläche herumtanzten. Im Hochsommer jedoch, wenn pralle, feurige Sonnenstrahlen auf sein Gesicht trafen, da strotzte der kleine See beinahe majestätisch glänzend, fast hochmütig, wie eine Plattform aus Gold. Bei all dem eigenen charaktervollen Sein konnte selbst Mani vergessen, dass dieses natürliche Bad ein Anfang und ein Ende besaß. Es war und blieb der kleine Fluss vom dem dieses Potential ausging, der hier an diesem verbreiteten, tiefen Becken nur eine kleine Rast einlegte. Zwar sah es so aus, als stünde der See still, ruhig und selbstgefällig, und dennoch war es nie dasselbe Wasser, das ihn am Leben erhielt. Ständig wurde er von dem unauffällig hinzuströmenden Flüsschen genährt, dass durch ihn hindurch, wie durch sich selbst, den einen bestimmten Ausgang suchte. In Gedanken zeichnete Mani den Verlauf des kleinen Flusses nach und begleitete ihn auf dem letzten Stück seines langen und aufregenden Weges. Sie stellte sich vor, wie er fast voller Erwartungsfreude, seinem grossen Bruder Rhein entgegenströmte, um endlich in diesem letzten Bett, stetig und unerbittlich, die Grenze seiner unscheinbaren Existenz zu erfahren. Fasziniert von diesen eingefangenen Bildern, die ihr noch während sie zum Picknickplatz zurück schlenderte, vor Augen standen, freute sie sich über ihre wundervollen Assoziationen, die nichts anderes widerspiegelten, als ihr eigenes Gefühl von Heimat.