Im Innersten berührt

„So ein Blödsinn“, dachte ich damals, wenn meine Mutter mir sagte: „Die grosse Liebe begegnet einem Menschen vielleicht einmal, höchstens zweimal im Leben.“
Ich musste eine Ausnahme sein, denn in meinem Bauch tanzten ständig irgendwelche bunten Schmetterlinge lustige Ringelreihen. Ja, meine Mutter hatte wohl dieses Prickeln nie erlebt, das wie aufsteigende Seifenblasen durch die Adern blubbern, dieses wundervolle Gefühl, über den Wolken zu schweben. Ich wusste was Liebe ist, wie es sich anfühlt, wenn man überglücklich ist. Zumindest glaubte ich es zu wissen, bis zu jenem Abend im August vor über zwanzig Jahren. In dieser einen Nacht begriff ich, wovon meine Mutter eigentlich gesprochen hatte.
Der Prinz, dem ich begegnet war, hatte meine naiven, mädchenhaften Träume verändert. Traum und Realität wurden auf seltsame Weise eins, und meine kleine Welt, mit all ihren bis anhin wundervollen Assoziationen, wurde um so vieles reicher.
Ich erinnere mich noch gut an die alte Schnulze, die irgendwoher erklang, Lichtjahre entfernt. All die romantischen, mit der Musik verschmolzenen Worte der Liebe, die, wie ich empfand, nur für mich alleine gesungen wurden. Die Zeit hatte für uns stillgestanden, bis zu dem Moment, als die Abschiedsworte des Discjockeys ertönten. Mit einem lauten Trommelwirbel scheuchte er uns alle hinaus.
Dann standen wir nun. Alles war still, nur aus der Ferne hörten wir ab und zu das erste, zaghafte Gezwitscher eines Vogels, der viel zu früh den heran nahenden Tag begrüßen wollte. Noch war es Nacht, aber die Morgendämmerung kam unaufhaltsam heran gekrochen. Es lag mir fern, an Abschied zu denken, und dennoch wusste ich, dass diese einzigartige Stimmung innerhalb kurzer Zeit schonungslos und für immer ausgelöscht sein würde. Noch hatten die vielen bekannten Gedanken und Bilder, die üblicherweise den Verstand beherrschen, ihre Gültigkeit noch nicht wieder erlangt. Doch sie kehrten zurück, nach und nach, als wollten sie sich ihren alten, wohlbekannten Platz im Geiste zurück erobern.
Ich hatte plötzlich eine seltsame Angst verspürt. Eine Angst, dass die zarten Bande unserer noch jungen, erst begonnen Zweisamkeit reißen könnten. Dass Liebe auch weh tun kann, war eine vollkommen neue und undefinierbare Erfahrung für mich. All die echten und aufrichtigen Gefühle, so schön sie auch waren, lösten auf eine seltsame Weise Trauer in mir aus.
„Warum um alles in der Welt hatte ich nur das Gefühl, straffällig geworden zu sein, wie jemand, der es wagte, einen verbotenen Zauber auszukosten?“ Nein, ich wollte noch nicht Abschied nehmen. Viel lieber wollte ich das neue, unbeschreiblich schöne Gefühl festhalten, weiterhin über den Dingen schweben, abheben und mich einfach von den Ereignissen treiben lassen.
Ich sah in seine Augen. Es waren ehrliche Augen, die meinen Blick liebevoll erwiderten. „Ich rufe dich bald an, wenn du mir deine Telefonnummer gibst!“ sagte der junge Mann. Er wollte gehen, das hatte im Gegensatz zum meinem Herzen mein Verstand längst kapiert.
Ich wollte ihm antworten, die Zahlen meiner Telefonnummer aufsagen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich hatte einfach nur wortlos vor im gestanden und wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als könnte ich das Verfalldatum dieser wundervollen Nacht bis ins Unendliche hinaus zögern.
Ich fing an zu zittern, obwohl es gar nicht kalt gewesen war. Er hatte mich sofort ganz sanft an sich heranzogen und mich eine kleine Ewigkeit in seinen Armen gehalten. Dann küsste er mich unsagbar zärtlich. Niemals zuvor hatte ich eine derart charismatische Ausstrahlung wahr genommen. Doch genau diese seltsame Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke, die ihn umgab, hatte sich im selben Augenblick für immer tief in meine Seele eingebrannt.
„Also, bis auf irgendwann“, hörte ich ihn plötzlich etwas unbeholfen sagen und das Gefühl von bittersüßem Abschied war ganz nah. Im nächsten Moment lösten sich unsere Hände auch schon voneinander und nach ein paar raschen, fast flüchtenden Schritten, hatte er sich noch einmal umgedreht. Nie werde ich diese knisternde, beinahe erotische Spannung vergessen, die einen Atemzug lang zwischen uns hin und her gesprüht war. Ich stand ganz still und glaubte, dass er noch einmal einen Schritt auf mich zu machen wollte, doch im letzten Moment hatte er es sich wohl anders überlegt. Regungslos starrte ich noch eine Weile auf die Umrisse seines entschwindenden Körpers, solange, bis der Rest seines Schattens gänzlich von der Dunkelheit aufgesogen worden war.
„Mein Gott“, dachte ich nur noch erschrocken, „die Telefonnummer….!“