Bücher
Meine schriftstellerische Ader verdanke ich meinem Vater. Während einem Jahr stand ich ständig mit ihm in Verbindung und er erzählte mir, was ich schon tausendmal gehört hatte, sein Leben zwischen Krieg und Frieden. Er erzählte und ich schrieb und am Schluss kam ein Buch heraus, das sich wie Butter liest. Einmal angefangen und du hörst nicht mehr auf zu lesen. Natürlich war die Suche nach einem Verleger schwierig, aber wir beide, Vater und ich, wir wussten, diese Erlebnisse sind ein Stück Geschichte, die für die Nachwelt erhalten bleiben muss. Ruckzuck war die Auflage verkauft. Mit einigen Auszügen aus dem Buch möchte ich einen kleinen Einblick in eine Zeit geben, die meine Generation Gott sei Dank nicht durchleben musste. Wer Lust hat, das Buch ganz zu lesen, dem leihe ich es gerne aus.
Irgendwann wird auch Mutters Biographie in einem Buch festgehalten. In meinem Kopf sind tausend Erlebnisse gespeichert, die Mutter immer wieder aus einer neuen Perspektive spannend erzählen kann.
Einblicke in Vaters Buch „Leben zwischen Krieg und Frieden“
Totengesang statt Weihnachtsglocken
Weihnachten stand vor der Tür, als wir die Schüsse bereits aus der Ferne hörten. Wir waren bestens auf den bevorstehenden Angriff vorbereitet, mussten aber ständig auf der Hut sein. Dann sahen wir sie. Sie waren noch circa zweihundert Meter von uns entfernt und stürmten über das offene Feld auf uns zu. Sie kamen wie immer in Massen angerannt und schossen dabei wie wild drauflos. Während wir in Deckung blieben rückten sie immer weiter vor. „Hurräh, Hurräh“ tönte ihr Schlachtruf übers weite Feld. Es klang fast so, als wären sie in einer Art Ekstase oder Trance. Auf jeden Fall mussten sie wie vom Wahn besessen sein, denn sie rannten uns sprichwörtlich direkt ins offene Messer. Mit unseren Maschinengewehren, die in einer Minute 600 Schuss abgaben, mähten wir sie regelrecht um. Sie fielen vor unseren Augen wie Schneeflocken. Binnen kurzer Zeit kostete das furchtbare Gemetzel Hunderten von Menschen das Leben. Einige, die ihre hoffnungslose Situation erkannten, warfen ihre Gewehre weit von sich und kamen mit erhobenen Händen auf uns zu. Um dem Tod zu entrinnen, gab es für sie nur die Möglichkeit, sich freiwillig in deutsche Gefangenschaft zu begeben.
Plötzlich kehrte Ruhe ein und wir hörten die furchtbaren Schreie der Verwundeten durch die Stille tönen. Wir konnten und durften nichts unternehmen, um ihnen zu helfen. Stattdessen mussten wir uns beeilen und uns für den nächsten Angriff bereit machen. Es dauerte auch nicht lange und nach einer halben Stunde rollte die nächste Welle russischer Soldaten auf uns zu. Wieder hallte ihr Schlachtruf „Hurräh, Hurräh“ in unseren Ohren wider. Sie erfuhren dasselbe Schicksal, wie ihre Kameraden zuvor. Zudem hatte unsere Artillerie zusätzlich Trommelfeuer eingesetzt und den Angreifern den Rest gegeben. Wieder kamen viele Überläufer, auch Verletzte. Die meisten von ihnen waren kaum sechzehn Jahre alt, noch richtige Kinder. Sie hatten mehr Angst vor ihren eigenen Landsleuten als vor uns. Wären sie in die eigenen Reihen zurückgelaufen, hätte man sie erbarmungslos erschossen. An den Gefangenen, die verwundet waren, hatte unser Kompaniechef wenig Freude. Trotzdem half man ihnen. Sie wurden zum Verbandsplatz gebracht, wo man sie notdürftig versorgte.
Beim zweiten Angriff erfuhren die russischen Soldaten wieder einmal, welch enorme Schussleistung in unseren Maschinengewehren steckte. Wir wussten, dass sie großen Respekt und auch Angst vor uns und unseren Waffen hatten. Dennoch blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich dieser Gefahr auszusetzen. Die meisten bezahlten ihren Mut mit dem Leben.
Noch wenige Stunden zuvor hatte das freie Feld friedlich und weiß vor uns gelegen. Nun war es übersäht von Toten und Verwundeten. Es waren nicht mehr Hunderte, sondern Tausende von Menschen, die dort lagen. Das Krachen und Donnern der Waffen war verstummt, aber die Schreie, das Weinen und Wimmern der unzähligen Verwundeten hallte zu uns herüber. Dieser furchtbare Totengesang ging mir durch Mark und Bein. Ich war todmüde, konnte aber unmöglich schlafen. Nur wenige Meter von mir weg gingen Hunderte von Menschen in dieser Nacht elendig zugrunde. Niemand kümmerte sich um sie, auch ihre eigenen Kameraden nicht. „Wie wenig doch das Leben eines Soldaten wert ist.“ Die Gedanken und Erlebnisse dieser Nacht prägten sich tief in mir ein. In den deutschen Reihen war es nicht viel besser. Auch wir hatten bei den Angriffen schwere Verluste erlitten, wenn auch nicht annähernd so viele, wie die Russen. „Sie starben fürs Vaterland in Ehre, Ruhm, Tapferkeit und Pflichttreue. Auf jeden Fall unbesiegt, weil sie als Helden gestorben sind.“ Worte wie diese klangen in meinen Ohren wie Hohn. Für mich waren sie Menschen, die man um ihre Zukunft betrogen hatte. Sie waren Opfer eines aberwitzigen Kriegsspiels geworden.
Wir konnten unsere getöteten Kameraden nicht einmal bergen, geschweige denn in dem tiefgefrorenen Boden angemessen begraben. Das war viel zu gefährlich. Auch wer schwere Verwundungen davon getragen hatte, war meistens gezeichnet für den Rest seines Lebens.
Riskante Rettung vor dem Erfrieren
Nun verbrachten wir bereits drei Tage in Ruhestellung. Trotzdem war obere Wachsamkeit immer unser größtes Gebot. Ständig mussten wir mit einem neuen Überfall rechnen. Es war bitterkalt und wir spürten kaum noch unsere Hände und Füße.
Am vierten Tag der Ruhe nahm mein Leben eine Wende. Am frühen Morgen, es war kaum hell geworden, stand ich mit einem Kameraden in vorderster Reihe auf Wache. Dieser vorgeschobene Posten wurde, im Gegensatz zu den anderen Wachposten, immer doppelt besetzt. Plötzlich sahen wir, wie sich drei Gestalten durch den Nebel direkt auf uns zu bewegten. Sie hatten ihre Hände nach oben gestreckt und trugen keine Waffen bei sich. Es waren russische Überläufer, die sich ergeben wollen. Nachdem wir sie in Gewahrsam genommen und durchsucht hatten, bemerkte ich, dass sie sehr gut und warm angezogen waren. Sie hatten dicke gesteppte Jacken, Hosen und Fellhandschuhe an. Unter ihren Pelzmützen trugen sie zusätzlich einen warmen Kopfschutz. Auch ihre Stiefel waren, anders als unsere, innen mit wärmendem Filz gefüttert. Auf den russischen Winter waren wir nicht vorbereitet. Unsere Uniformen waren dünn und auch unsere Stiefel taugten nicht viel bei den tiefen Temperaturen. Man hatte uns zwar Winterkleidung versprochen, aber die war nie bei uns eingetroffen.
Bei dem Anblick der Russen dachte ich nur noch daran, endlich nicht mehr frieren zu müssen. Meinem Kameraden ging es ebenso. Die Überläufer kamen uns gerade recht. Augenblicklich setzten wir unsere Idee, nämlich die Kleider zu tauschen, in die Tat um. Zwei von ihnen hatten ungefähr die gleiche Größe wie wir. Damit sie kapierten, was wir von ihnen wollten – sie verstanden ja unsere Sprache nicht – zogen wir unsere Jacken aus und zeigten mit den Fingern auf die ihrigen. Erst weigerten sie sich, bekamen aber dann doch Angst. Im gleichen Muster tauschten wir auch den Rest der Kleider. Mit der Kleidergröße hatte es einigermaßen hingehauen. Bei den Stiefeln war das schon schwieriger. Als sie merkten, dass wir auch die Stiefel mit ihnen tauschen wollten, weinten sie plötzlich. „Entweder erfrieren oder tauschen“, hatte ich zu meinem Kameraden gesagt. Unsere Füße, die sich wie zwei Eisklumpen anfühlten, machten uns die Entscheidung leicht. Mitleid war in diesem Moment fehl am Platz. Ich hatte Glück und die Stiefel passten wie angegossen. Nach der Tauschaktion sahen wir wie zwei russische Soldaten aus. Die Situation war mehr als komisch. Wir sahen uns gegenseitig an, betrachteten dann die Russen in unseren deutschen Uniformen und hätten am liebsten laut gelacht. So betreten, wie die Russen vor uns standen, war es dann doch eher Mitleid, das sich in uns rührte. Trotzdem empfanden wir den Tauschhandel als gerecht. Im Gegensatz zu den Russen waren wir nicht an die harten Bedingungen des Winters gewöhnt. Wir wussten, dass die Russen in unseren dünnen Uniformen nicht so schnell erfrieren würden. Mit dieser Überlegung konnten wir unser schlechtes Gewissen ein bisschen besänftigen. Wir waren nun wunderbar warm angezogen und riefen einen anderen Kameraden herbei, der in circa dreißig Metern Entfernung von uns alleine auf Wache stand. Er tauschte seine Kleider mit dem dritten russischen Gefangenen. Bis auf die Stiefel passte ihm alles gut. Sie waren ihm zu klein. In dieser Hinsicht hatte er eben Pech gehabt.
Bis zur nächsten Wachablösung behielten wir die russischen Gefangenen in unserer Obhut. Nach ein paar Stunden war die Ablösung pünktlich zur Stelle und staunte nicht schlecht, als wir ihnen die drei Gefangenen in unseren deutschen Uniformen präsentierten. Wir übergaben sie anschließend dem wachhabenden Feldwebel, der kein Wort über den Tauschhandel verlauten ließ und die Überläufer zum Kompaniechef in den Gefechtsstand brachte. Alles hatte bis zu diesem Zeitpunkt seinen rechten Weg genommen. Als der Feldwebel aber zurückgekehrt war, teilte er uns mit, dass wir uns umgehend zum Gefechtsstand begeben sollten. „Ihr müsst sofort beim Kompaniechef vorsprechen“, hatte er uns mit einem verkniffenen Lachen befohlen. Erst dachten wir uns noch nichts Schlimmes dabei. Einer meiner Kameraden sagte sogar spaßeshalber: „Was will denn der schon von uns? Sicher will er uns eine Auszeichnung geben!“ Obwohl wir insgeheim wussten, dass wir alles andere als Lobeshymnen erwarten durften, hofften wir dennoch, dass unser Kompaniechef den Tauschhandel billigte. „Die Klamotten zieh ich nicht mehr aus, komme was will“, sprach ich mir selbst Mut zu. Wenige Minuten später meldeten wir uns wie befohlen zur Stelle und erlebten ein Donnerwetter. Der Kompaniechef schrie uns wie wild an: „Was erlauben Sie sich, einem Feind deutsche Heereskleider anzuziehen? Sie haben die deutsche Wehrmacht geschändet. Schämen Sie sich denn gar nicht?“ Während der Kompaniechef beinahe vor Wut zu platzen drohte, standen wir drei ganz ruhig vor ihm und sagten keinen Ton. „Ich will eine Antwort“, brüllte er erneut laut. „Die können Sie haben, Herr Hauptmann und ich spreche für uns drei“, sagte ich plötzlich ohne Angst. „Erstens haben wir noch nicht die versprochene Winterkleidung und weil es bitterkalt ist, haben wir beschlossen, die Kleider mit den Russen zu tauschen. Ja, und zweitens sind es nun nicht mehr unsere Feinde, da sie sich ja ergeben haben.“ Mit meiner logischen Erklärung hoffte ich, den Hauptmann überzeugen zu können. Für einen Moment war es unangenehm still im Raum geworden. Der Kopf des Hauptmanns hatte sich rot gefärbt, als er mit übertrieben freundlichem Ton fragte: „Sind Sie jetzt fertig?“ Er wartete meine Antwort erst gar nicht ab, sondern machte einem neuen Anfall von seiner Wut Luft. „So eine freche Antwort lasse ich mir als Kommandant von einem gewöhnlichen Soldaten, wie Sie einer sind, nicht gefallen. Ich gebe Ihnen nun den dienstlichen Befehl, dass Sie drei sich augenblicklich wieder Ihre Heereskleidung beschaffen.“ Wir wussten alle drei, was es heisst, einen dienstlichen Befehl zu verweigern. Ich pfiff auf die Konsequenzen. Als niemand etwas sagte und ich mir so vorstellte, wie ich in meiner Uniform und den ungefütterten Stiefeln gefroren hatte, war mir plötzlich alles egal. „Herr Hauptmann, Ihren Befehl können wir nicht befolgen“, erwiderte ich mutig. „Wir befinden uns hier im Krieg und nicht in der Kaserne. Im Krieg hat ihr Befehl keinen Bestand. Wenn Sie wollen, dann können Sie mich erschießen. Ich habe nichts zu verlieren.“ Meine Kameraden sahen mich staunend an, sagten aber kein Wort. „Ja, wenn ich schon nahe dran war vor meinen Schöpfer zu treten, dann mit warmen Füssen“, dachte ich bei mir. Der Hauptmann wusste, dass es mir ernst war. „Ich würde Sie auch am liebsten erschießen, aber das darf ich nicht. Hierfür ist das Kriegsgericht zuständig und ich sage Ihnen dreien, dort werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt wieder sehen.“ Noch ein letztes Mal versuchte er uns umzustimmen, als er zornig sagte: „Also, dann verweigern Sie meinen Befehl!“ Nach einem knappen „jawohl Herr Hauptmann“, dass wir wie im Kanon sangen, schickte er uns auf unseren Posten zurück. „Wir sehen uns vor dem Kriegsgericht wieder, das garantiere ich Ihnen“, hatte er uns noch laut brüllend nachgerufen.
Wir schreiben den 24. Dezember 1941, es ist Heiligabend. Statt uns darüber zu freuen und zu feiern, mussten wir noch mehr auf der Hut sein. Die Russen kennen weder Heiligabend noch Weihnachten, wussten aber, dass dies für uns ein hoher Festtag ist. Sie starteten erneut eine Großoffensive, vielleicht weil sie dachten, dass wir an einem solch besinnlichen Festtag eher zu bezwingen wären. Zudem waren wir vom letzten Angriff noch sehr geschwächt und hatten auch nicht mehr allzu viel Munition. Die ganze Division erhielt den Befehl zum Rückzug und die Anweisung, dass wir uns an anderer, geschützter Stellung wieder positionieren sollten. So waren wir am Heiligen Abend die ganze Nacht durchmarschiert. Den Rückzug machten uns die Russen aber nicht leicht. Sie griffen uns mit Panzern an, die wir jedoch bezwingen konnten. Unser Kompaniechef hatte persönlich drei ihrer Panzer mit der Panzerfaust und Hohlschaftladung außer Gefecht gesetzt. Beim vierten Panzer erwischte es ihn selbst. Er war auf der Stelle tot. Wir versuchten ihn dort, wo er gestorben war, zu beerdigten. Der Boden war tief gefroren und wir brauchten einen Pickel um die Erde aufzuhacken. Dabei erinnerte ich mich an seinen Wunsch. Er wollte immer das Ritterkreuz haben. Nun bekam er ein Holzkreuz. Unser Hauptmann war ein großer Kämpfer, der sein Leben ganz im Sinne seines Führers fürs geliebte Vaterland hergegeben hatte. Obwohl es mir sehr leid tat, dass er sein Leben auf solch brutale Weise verlieren musste, hatten ich und zwei meiner Kameraden durch seinen Tod ein großes Problem weniger. Vors Kriegsgericht konnte er uns nun nicht mehr zitieren.
Der Druck der Russen wurde immer stärker, was uns ständig weiter zurückschlug. Wir kamen nur langsam vorwärts, da ein schlimmer Schneesturm einsetzte. Es war bitterkalt und ich war unendlich froh, dass ich meine russischen Kleider und Stiefel noch an hatte. Wir gingen durch Wälder, wo der Schnee nicht ganz so hoch lag. Auch die Fahrzeuge unserer Kompanie hatten große Schwierigkeiten, durchzukommen. Als wir in einem Wald Rast einlegten, kehrte für eine Weile wieder etwas Ruhe ein. Wie schon so oft bauten wir uns provisorische Hütten aus Reisig. Sie gaben uns zumindest das Gefühl, ein wenig vor der Kälte und dem Wind geschützt zu sein. Mittlerweile herrschten Temperaturen von minus 40 Grad. Lange wurde uns die Ruhepause nicht gegönnt, denn uns wurde die schreckliche Nachricht übermittelt, dass eine deutsche Panzereinheit im meterhohen Schnee stecken geblieben war. Da es für sie kein Weiterkommen mehr gab, konnten sie uns bei einem Angriff der Russen nicht mehr unterstützen. Damit die Panzer nicht den Russen in die Hände fielen, wurden sie alle in die Luft gesprengt. Einst hatte diese Panzereinheit Moskau eingekesselt und uns die Illusion von einem schnellen Ende des Krieges vorgegaukelt. Dieser Traum war nun endgültig ausgeträumt.
Als ich wieder einmal auf Posten war, bemerkte ich eine Erfrierung an der rechten Hand. Trotz meiner zweifachen Handschuhe war der rechte Zeigefinger – der Schussfinger – stark angegriffen. Der Finger war taub und ich spürte ihn so gut wie gar nicht mehr. Ich sah, wie sich ständig kleine Schweißperlen darauf bildeten. Ein Sanitäter legte mir einen Verband an. Mehr konnte er im Moment nicht für mich tun, da wir immer mehr von den Russen zurückgedrängt wurden. So schnell, wie wir vorgerückt waren, so eilig flüchteten wir nun vor den Russen. Das Blatt hatte sich eindeutig gewendet.
Nach einem Marsch von rund zwanzig Kilometern konnten wir seit langer Zeit wieder in einem Dorf Halt machen. Die Häuser waren alle, wie schon gewohnt, aus Holz gebaut und die Dächer mit Stroh gedeckt. Wir freuten uns über die primitive Behausung und darüber, endlich wieder ein richtiges Dach über dem Kopf zu haben. Im Dorf gab es weder ein Geschäft noch kannten die Menschen, die dort lebten, Geld. Dieses Zahlungsmittel war ihnen fremd. Sie lebten von dem, was sie selbst aus ihren Gärten erwirtschaftet hatten und hielten sich ein paar Schweine, Ziegen und Hühner. Trotz dieser bescheidenen Verhältnisse, das konnte man sehen, waren sie mit ihrem Schicksal zufrieden. In den vergangenen Monaten hatten wir einiges erlebt, darum störte es uns auch nicht weiter, dass die Toiletten, die sich jeweils hinter einem Haus befanden, nur ein Loch waren, über das man eine Stange zum Festhalten befestigt hatte.
In diesem größeren Dorf blieben wir drei Tage. Als wir uns erneut für den weiteren Rückzug sammelten, erhielten wir einen furchtbaren Befehl. Wir sollten alle Häuser im Dorf in Brand stecken. Die Leute wurden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen und anschließend mussten wir diesen abscheulichen Befehl ausführen. Auch die Bewohner anderer Dörfer, durch die wir bei unserem Rückzug noch kommen sollten, mussten das gleiche Schicksal über sich ergehen lassen. Kein Haus und keine Scheune durften verschont bleiben. Damit wollte man den Russen, die uns jagten, die Unterkünfte zerstören. Dass auch die Kinder, Frauen und alten Menschen, die in den Dörfern lebten, wahrscheinlich erfrieren mussten, darauf wurde keine Rücksicht genommen.
Es war bitterkalt, der wohl kälteste Winter, den es je in Russland gab. Wir kämpften uns durch Schnee und Eis und wurden zunehmend schwächer. Der Rückzug ging nur schleppend voran. Viele meiner Kameraden hatten derart starke Erfrierungen, dass es ihnen nicht mehr möglich war, weiter zu marschieren. Sie auf den Fahrzeugen mitzunehmen war nicht mehr möglich, da auch sie große Mühe hatten, bei den tiefen Temperaturen und dem Schnee durchzukommen. Viele Fahrzeuge gaben den Geist auf und wurden zurückgelassen. Unzählige unserer Kameraden waren regelrecht erfroren. Wie viele es genau waren, wussten wir nicht. Sie hatten das Schicksal mit Tausenden anderer deutscher Soldaten geteilt, die später als Vermisst gemeldet wurden. Um selbst am Leben zu bleiben, mussten wir unsere Kameraden zurücklassen. Auch dies war wohl eine der bittersten Entscheidungen, die wir je treffen mussten.
Der Rückmarsch dauerte bereits etliche Tage. Zweimal hatten wir eine Unterkunft zum Schlafen gefunden. Jedes Mal, wenn wir wieder weiter gezogen waren, mussten wir dem abscheulichen Befehl Folge leisten, alle Häuser in Brand zu stecken.
Nach ungefähr einhundert Kilometer Marsch kamen uns die feindlichen Truppen bedrohlich nahe. Dadurch wurden wir gezwungen anzuhalten und Maßnahmen für den bevorstehenden Angriff zu treffen. Am Rande eines kleinen Waldes fanden wir einen idealen Ort mit freiem Blick auf ein weites Feld. Von den zweihundert Soldaten unserer Kompanie hatten achtzig ihr Leben verloren oder waren schwer verwundet worden. Der Rest war derart geschwächt und wir befürchteten, den nächsten Angriff nicht zu überleben. Am anderen Tag erlebten wir ein kleines Wunder. Wir erhielten unverhofft Verstärkung. Es waren achtzig Soldaten unserer Ersatzeinheit, die aus Frankreich kamen und gerade noch rechtzeitig bei uns eintrafen. Mit ihnen war unsere Kompanie wieder vollzählig. Mit dem Proviant und der Munition, die sie mitbrachten, waren wir für den Angriff der Russen wieder bestens gerüstet. Nun lernten wir auch den neuen Kompaniechef kennen, der unseren verstorbenen Anführer ersetzen sollte. Von den Drohungen seines Vorgängers, mich und zwei meiner Kameraden vor ein Kriegsgericht zu bringen, wusste er glücklicherweise nichts.
Die Minustemperaturen von rund fünfundvierzig Grad machten uns auch weiterhin am meisten zu schaffen. Am Waldrand fanden wir ein wenig Schutz vor der Kälte. Immer mehr Soldaten klagten über Erfrierungen an Händen und Füssen. Tagsüber konnten wir uns ein wenig an einem Feuer aufwärmen. Sobald es aber dunkel wurde, herrschte ein strenges Verbot, Feuer zu machen.
Der Feind war uns auf den Fersen und er würde bald kommen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Obwohl unsere Kompanie wieder vollzählig war, mussten wir mit einem Riesenaufkommen der Russen rechnen. Unser einziger Trumpf war die Schusskraft unserer Waffen. Diesbezüglich waren wir den Russen immer noch haushoch überlegen. Zudem war der Ort, um die Russen zu empfangen, günstig für uns gelegen. Wir hatten die acht Maschinengewehre unserer Einheit gut getarnt in Richtung auf das freie Feld positioniert und regelrecht auf die Russen gewartet. Sobald sie anrücken würden, das war jedem von uns bewusst, mussten wir unsere Stellung halten, auf Biegen und Brechen.
Am frühen Morgen des sechsten Tages hörten wir sie kommen. In wenigen Minuten waren wir auf Gefechtstation. Die Russen hatten uns ausfindig gemacht und sich für ihren ersten Angriff formiert. Gegen Mittag wurde es richtig brenzlig für uns. Der Gegner nahm tatsächlich das große Risiko auf sich und stürmte über das offene Feld direkt auf uns zu. Es waren Hunderte von Soldaten und sie ballerten wie die Verrückten in unsere Stellungen hinein. Zwischen den lauten Schüssen hallte immer wieder ihr schriller Schlachtruf „Hurräh, Hurräh“ zu uns herüber. Wir ließen sie bis auf 200 Meter an uns herankommen. Mit der enormen Schussleistung unserer Maschinengewehre und der Wucht unserer Granatwerfer konnten wir sie stoppen. Trotzdem schafften es einige bis auf zwanzig Meter an uns heranzukommen. Mehrere von ihnen warfen aus Angst ihre Gewehre weg und liefen mit erhobenen Händen auf uns zu. Wir konnten kaum durchatmen und nachladen, da nach einer halben Stunde bereits die zweite Welle heranrollte. Wir hatten Munition genug, um auch sie, wie auch die dritte Welle, die wenig später folgte, niederzumähen. Beim dritten und letzten Angriff setzte unsere Artillerie zusätzlich Trommelfeuer ein. Es war ein furchtbares Abschlachten, das sich nur wenige Meter von uns entfernt abgespielte. Trotz der großen Überlegenheit unserer Waffen war die Situation für uns zeitweise ausgesprochen schwierig geworden. Auf einen deutschen Soldaten kamen zehn Russen und an dieser Übermacht wären wir beinahe gescheitert. Fast war es den Russen gelungen, die Kampflinie zu durchbrechen.
Nach rund zwei Stunden fand dieses grausame Kriegsspiel endlich ein Ende. Das Resultat der drei russischen Angriffe war verheerend. Das ganze Feld war von Toten und Verwundeten übersät. Wir hörten die grauenvollen Schreie der Verwundeten, die gespenstisch durch die eingekehrte Stille tönten. Keiner bemüht sich um sie. Noch während der ganzen Nacht war das schreckliche Schreien und Wimmern zu hören.
Am anderen Morgen in der früh bot unser Heerführer den Russen über Lautsprecher einen eintägigen Waffenstillstand an. Sie gingen darauf ein und brachten nun endlich ihre Verwundeten in Sicherheit. Für die meisten von ihnen kam jede Hilfe zu spät. Der Boden war von Leichen übersäht, die in allen möglichen Lagen und Stellungen vom Todeskampf gezeichnet waren. Viele waren verstümmelt worden. Dieser Anblick war nichts für Anfänger und brachte selbst den stärksten Mann ins Wanken. Weder die Russen noch wir konnten unsere Toten beerdigen, da der Boden steinhart und metertief gefroren war. Auch unsere Einheit nutzte den Waffenstillstand und barg und verarztete circa dreißig Verwundete. Zwölf unserer Kameraden hatten bei den Angriffen das Leben verloren. Im Vergleich zu den Russen waren das wenige.
Auszug aus einer Pressemeldung
HEUTE IN DER ZEITUNG FÜR DAS TRIERER LAND
19.12.2006
Vom Tod und einer verlorenen Jugend
OLLMUTH. (dis) Der kleine Ort in der Verbandsgemeinde Ruwer hat seinen eigenen Buchautor. Der in Schömerich geborene und in Ollmuth lebende Alois Jäckels stellte im Gemeindehaus sein Buch „Leben zwischen Krieg und Frieden“ vor.
Alois Jäckels (links) hat in Zusammenarbeit mit Dittmar Lauer aus Kell seine Erlebnisse während des Krieges zusammengefasst. TV-Foto: Dietmar Scherf
Das Gemeindehaus erwies sich als wesentlich zu klein für diese Veranstaltung. Doch obwohl viele Gäste während der Vorstellung stehen mussten, nahmen sie es gelassen hin. Denn das Interesse war groß. In dem knapp 170 Seiten umfassenden Werk gibt Jäckels seine Erlebnisse in den Jahren 1921 bis 1947 wider.
Als Herausgeber konnte er den Heimat- und Kulturverein Kreis Trier-Saarburg und die Vereinigung der Heimat- und Geschichtsfreunde im Hochwaldraum gewinnen. Ihr Vorsitzender, Dittmar Lauer aus Kell, übernahm die Redaktion und Buchgestaltung. „Der Autor hat sich erst im hohen Alter dazu durchgerungen, seine Kriegserlebnisse aufzuschreiben,“ sagte Lauer.
Als der Zweite Weltkrieg begann, war Jäckels achtzehn Jahre alt. Er war ein junger Mann, der mit offenen Augen und Ohren die Geschehnisse um sich herum aufnahm. Seiner exzellenten Beobachtungsgabe und seinem guten Gedächtnis ist das Buch zu verdanken. Lauer sagte: „Mit den Worten des Autors ‚Wehrt euch, denn Krieg ist immer der falsche Weg‘, richtet es sich vor allem an die junge Generation.“
Alois Jäckels, Vater von fünf Kindern, beginnt seine Erzählungen mit der Familiengeschichte seiner Mutter und dem frühen Tod ihres Vaters. Daran knüpft er seine eigene Familiengeschichte an und beschreibt seine Kindheit und Jugendzeit. „Den größten Teil des Buches widme ich meinem Leben im Krieg,“ sagte der 85-Jährige. Auch da habe es gute Jahre gegeben, aber auch Momente, in denen er regelrecht durch die Hölle gegangen und dem Tod von der Schippe gesprungen sei. Jäckels erzählt von den langen Märschen an die Front, dem Verlust des besten Kameraden, der Kälte im russischen Winter, der Gefangenschaft in Amerika – aber auch vom eigenen Glück. Er beschreibt den abgefrorenen und verfaulten Finger und den Schuss in den Oberarm.
In Erinnerung an bewegte Jahre im Krieg und die verlorenen Jugendjahre sagte Jäckels: „Noch heute danke ich Gott für den Schutzengel, den er mir gesandt hat und der mir immer zur Seite stand. Ohne ihn hätte ich den Krieg sicher nicht überlebt.“ Während der Feierstunde las die in der Schweiz lebende Tochter, Maria Graf, mit „Totengesang statt Weihnachtsglocken“ und „Riskante Rettung vor dem Erfrieren“ einige Kapitel aus dem Werk ihres Vaters vor. Die musikalische Gestaltung des Abends übernahm die Bläsergruppe des Musikvereins Trier-Irsch.
Das Buch „Leben zwischen Krieg und Frieden“ (ISBN 3-9810762-6-5 (978-3-9810762-6-4) ist beim Autor, in der Akademischen Buchhandlung in Trier und beim „Alta Silva“ Verlag in Kell erhältlich.