Geben und Nehmen

Schuld und Unschuld in Beziehungen
Menschliche Beziehungen beginnen mit geben und nehmen. Und mit geben und nehmen beginnen auch unsere Erfahrungen von Unschuld und Schuld. Denn, wer gibt, der hat auch Anspruch. Und wer nimmt, der fühlt sich verpflichtet. Anspruch auch der einen Seite und Verpflichtung auf der anderen sind für jede Beziehung das grundlegende Schuld/Unschuld-Muster. Es dient dem Austausch von geben und nehmen. Geber und Nehmer haben keine Ruhe bis es zum Ausgleich kommt.

Beispiel: In Afrika wurde ein Missionar versetzt. Am Morgen der Abreise kam noch ein Mann zu ihm, der schon mehrere Stunden unterwegs war, um ihm ein kleines Geldgeschenk zu geben. Es waren umgerechnet ca. 30 Rappen. Der Missionar hatte ihn öfters besucht, als er krank war. Für den Geber waren 30 Rappen eine große Summe. Zuerst versucht der Missionar ihm das Geld zurück zu geben, ja ihm noch etwas dazu zu schenken. Doch dann besann er sich, nahm das Geld und dankte.

Wenn wir von anderen etwas bekommen, auch wenn es noch so schön ist, verlieren wir unsere Unabhängigkeit und Unschuld. Denn, wenn wir nehmen, fühlen wir uns dem Geber gegenüber verpflichte und in Schuld. Diese Schuld erleben wir als Unlust und als Druck. Wir versuchen die Schuld wieder los zu werden, indem wir selber geben. Es gibt kein Nehmen ohne diesen Preis.
Unschuld dagegen erfahren wir als Lust. Wir fühlen sie als Anspruch, wenn wir gegeben haben ohne selber zu nehmen. Und wenn wir mehr geben als wir nehmen. Und wir fühlen sie als Leichtigkeit und Freiheit, wenn wir zu nichts verpflichtet sind. Z.B.: Wenn wir selbst nichts brauchen, oder besonders, wenn wir nach dem Nehmen auch gegeben haben. Um diesen Zustand zu erreichen oder festzuhalten kennen wir 3 Verhaltensweisen

1. Aussteigen – nicht annehmen können
Manche wollen ihre Unschuld bewahren, indem sie sich weigern, mit zu machen. Sie machen lieber dicht, als dass sie selber nehmen. Denn sie sind dann auch zu nichts verpflichtet. Das ist die Unschuld der Nichtspieler. Leute, die sich nicht die Finger schmutzig machen wollen. Diese Menschen kommen sich oft besonders oder besser vor. Doch sie leben auf Sparflamme und fühlen sich entsprechend leer und unzufrieden. Dieser Haltung finden wir bei vielen Depressiven. Ihre Weigerung zu nehmen bezieht sich zuerst auf einen oder beide ihrer Eltern. Später übertragen sie diese Weigerung auch auf andere Beziehungen oder auf das Gute, und die guten Dinge dieser Welt
Einige begründen ihre Weigerung zu nehmen mit dem Vorwurf, was ihnen angeboten oder gegeben wird, ist nicht das Richtige oder zu wenig. Andere rechtfertigen ihr Nicht-Nehmen mit den Fehlern der Geber. Das Ergebnis ist aber das gleiche. Sie bleiben untätig und leer.

Die umgekehrte Wirkung sehen wir bei jenen, denen es gelingt, ihre Eltern so zu nehmen wie sie sind. Und von ihnen alles zu nehmen, was sie bekommen. Dieses Nehmen erleben sie als ständige Zufuhr von Energie und Glück. Es macht sie fähig, auch andere Beziehungen zu haben und in ihnen viel zu nehmen und zu geben.

2. Aussteigen – zuviel geben wollen
Eine zweite Weise Unschuld zu erfahren, ist der Anspruch an andere – wenn ich ihnen mehr gegeben habe, als sie mir. Diese Unschuld ist meist nur vorübergehend. Denn so bald auch sie von anderen nehmen, hört auch der Anspruch auf.
Manche halten ihren Anspruch lieber aufrecht, als das auch sie sich von anderen etwas geben lassen. Ganz nach dem Motto: Lieber sollst du dich verpflichtet fühlen, als ich. Diese Haltung finden wir bei vielen Ideal-Gesinnten und kennen sie auch als Helfer-Ideal/Syndrom. Doch solche anspruchsvolle Freiheit von Verpflichtung ist beziehungsfeindlich. Denn, wer nur geben will, hält fest an einer Überlegenheit, die nur vorübergehend sein darf, weil sonst dem Nehmer die Ebenbürtigkeit verweigert wird. Denn, von dem, der selbst nichts nehmen will, wollen andere bald nichts mehr haben. Sie ziehen sich von ihm zurück oder werden ihm vielleicht böse. Solche Helfer bleiben einsam und sind oft verbittert.

3. Ein- und Aussteigen – Entlastung nach dem Ausgleich (die schönste Weise)
Es ist ein gutes Gefühl, wenn wir sowohl genommen und auch gegeben haben. Dieser Austausch von Geben und Nehmen spielt sich zwischen den Beteiligten ab. Das heißt, wer vom anderen etwas nimmt, gibt diesem auch entsprechendes zurück.
Doch nicht nur auf den Ausgleich kommt es dabei an, sondern auch auf den Umsatz. Der kleine Umsatz von geben und nehmen bringt kleinen Gewinn. Der große Umsatz macht reich. Er wird begleitete von Gefühlen der Fülle und des Glücks. Dieses Glück fällt uns nicht in den Schoss. Es wird gemacht. Bei solch großem Umsatz haben wir ein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit und von Gerechtigkeit und Frieden. Von den vielen Möglichkeiten, Unschuld zu erfahren, ist sie wohl die Befreienste. Diese Unschuld ist zufrieden.
In machen Beziehung aber ist diese Entlastung nicht möglich, weil zwischen dem Geber und Nehmer ein großes Gefälle herrscht, wie z.B. zwischen Eltern und Kinder oder zwischen Lehrern und Schüler. Denn Eltern und Lehrer sind in erster Linie Gebende und Kinder und Schüler sind Nehmende. Zwar bekommen auch die Eltern etwas von ihren Kindern und die Lehrer etwas von ihren Schülern zurück, aber das Ungleichgewicht wird dadurch nicht aufgehoben, es wird nur gemildert. Doch die Eltern waren selbst einmal Kinder und die Lehrer waren selbst einmal Schüler. Sie erreichen den Ausgleich, indem sie an die nächste Generation weiter geben, was sie von der früheren empfangen haben, und ihre Kinder oder Schüler dürfen ein Gleiches tun.

Börries Freiherr von Münchhausen bringt das in einem Gedicht wunderschön zum Ausdruck:

Der goldene Ball

Was auch an Liebe mir vom Vater ward,
ich hab’s ihm nicht vergolten, denn ich habe
als Kind noch nicht gekannt den Wert der Gabe
und ward als Mann dem Manne gleich und hart.

Nun wächst ein Sohn mir auf, so heiß geliebt
wie keiner, dran ein Vaterherz gehangen,
und ich vergelte, was ich einst empfangen,
an dem, der mir’s nicht gab – noch wiedergibt.

Denn wenn er Mann ist und wie Männer denkt,
wird er, wie ich, die eignen Wege gehen,
sehnsüchtig werde ich, doch neidlos sehen,
wenn er, was mir gebührt, dem Enkel schenkt.

Weithin im Saal der Zeiten sieht mein Blick
dem Spiel des Lebens zu, gefasst und heiter,
den goldnen Ball wirft jeder lächelnd weiter,
und keiner gab den goldnen Ball zurück!